ZiTy – Die Verselbständigung der Schrift im öffentlichen Raum

Ein urban-typografischer Essay

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Schrift als Architektur

Beim Spaziergang durch die nächtliche Nanjing Road, die historische Hauptgeschäftsstraße Shanghais, wird man fast erschlagen von den unzähligen Neon-Reklameschriften. Niemand kann sich deren aufdringlicher Farbigkeit und Vielfalt entziehen. Die einzelnen Botschaften, meistens Laden- und Markennamen, kunstvoll arrangiert in „künstlerischer“ Dekorationsschrift, sind dicht eingebettet in strahlende Neon-Ornamentik. Als elektronische Neuauflage der traditionellen Lampions und Fahnen im folkloristischen Stil, wie es sie auf alten Märkten gab, entfalten sie Tag und Nacht ihre aufreizende Wirkung. Die knalligen Schriften tun ihr Bestes, um dem Begriff von renao, lebhaft hitziger Lärm, der eine gesellige und lebendige Atmosphäre kennzeichnet, gerecht zu werden. Die aus Europa Anfang des 20. Jahrhunderts bekannte „Blechpest“, die das Überhandnehmen von metallenen Reklameschilder im öffentlichen Raum in Großstädten bezeichnete, wird hier ästhetisch übersteigert. Längst haben die Schilder und Zeichen ihre eigene architektonische Materialität. Beim Durchlaufen, Vorbeifahren nimmt man die einzelnen Zeichen nicht mehr in ihrer Lesbarkeit und Bedeutung wahr, sondern in ihrer Bildlichkeit und Kompaktheit als urbane Markierungen. Sie verselbständigen sich durch ihre dichte Struktur zur eigenen Stadt in der Stadt.

Schrift als Imaginationsraum

Der Versuch, sich den Schildern durch die Flucht an die Peripherie zu entziehen, ist zwecklos. Bis an die äußersten Ränder der Stadt wird man von Schriften und Schildern verfolgt. Auffällig ist dabei, dass diese Schriftenstadt nicht nur in den Hauptgeschäftsstraßen breitesten Raum einnimmt, sondern auch an informellen Zwischenorten, die noch auf dem Weg zur Modernisierung sind. Das sind z. B. ländliche Vororte fernab der großen Malls und Büro-Tower mit ihren sich geschäftig gebenden kleinen Werkstätten und Garküchen, Mini-Supermärkte und Kiosken. Die oft als Familienunternehmen geführten kleinen Betriebe imitieren die großen wohlhabenden Geschäfte und schmücken sich gelegentlich mit Ladenschildern, die ohne weiteres doppelt so groß sind wie ihr kleiner Schuppen. Je größer und auffälliger die Schrift, desto größer die Chance, Autofahrer und Fußgänger als Kundschaft anzulocken. Die Diskrepanz zwischen den Botschaften auf den Schildern und dem tatsächlichen Angebot der Geschäfte ist enorm. Die Zeichen erklären die Garküche zum „Restaurant“, die kleine Sanitärwerkstatt zur „Internationalen Firma“. Der Inhalt wird aufgeblasen durch das Medium der Schrift. Sie entfaltet den Mehrwert des Ortes, wird zum Imaginationsraum für Projektionen darüber, was der Ort alles werden kann im Zuge des rasanten urbanen Fortschrittes.

Schrift als Überlebenstaktik

Manche Orte warten auf den Fortschritt, informelle Orte, die zwischen Abriss und Neubau stecken – einzelne Mauerstücke und Reste von Straßenzügen, die verwahrlost sind und bald ganz verschwinden. Dort machen offizielle Schilder und Reklame keinen Sinn. Stattdessen werden diese Unorte zum Träger einer subversiven Schriftkultur in Form handgeschriebener Botschaften. Ungleich dem westlichen Begriff von Graffiti als künstlerisch-rebellischem Selbstausdruck sind die Zeichen an chinesischen Wänden pragmatischer und ebenfalls ökonomischer Natur: Die Zwischenräume bilden das Lebensumfeld von Wanderarbeitern, Tagelöhnern und anderen Überlebenskünstlern. Der Abriss ist ihre Chance. Auf der Suche nach Arbeitgebern, schreiben sie ihre Kontakte und Dienstleistungen (Maurer, Schlüsseldienst, kleine Blaskapelle zu Hochzeiten und Beerdigungen…) auf Wände und Böden. Anders als bei den Werbeschildern, geht es nicht darum, einen visuellen Eindruck zu hinterlassen sondern darum, so schnell und unauffällig wie möglich gelesen zu werden und danach wieder zu verschwinden. Die Schrift wird zur Überlebenstaktik, die genauso schnell und unbeständig ist wie das Schicksal der Schreiber in der Großstadt – ohne jegliche Sicherheiten und Permanenz.

Von der Nanjing Road in die suburbane Zone, vorbei an den Überbleibseln der alten abgerissenen Stadtviertel: Die Zeichen sind allgegenwärtig. Während die etablierten Geschäftszentren in leuchtenden Schriften erstrahlen, bemühen sich die Vororte mit bescheidenen Mitteln, ihnen so nahe wie möglich zu kommen. Auch wenn die Gekritzel auf porösen Wänden wie subversive Graffiti erscheinen, sind sie nichts anderes als eine Fortsetzung des Kommerziellen in mikrokosmischen Dimensionen. Das spannungsgeladene Zusammenspiel von offizieller Schriftkultur und illegalen Guerilla-Botschaften könnte man als Relief der rasanten urbanen Entwicklung lesen, in dem sich die Schritte der Modernisierung und ihrer Unarten widerspiegeln. Die Stadt gehört den Zeichen.

Text: Yimeng Wu, Designerin / Künstlerin, Berlin, September 2010

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BILDERKLÄRUNG:

Die begleitenden Bilder stammen aus der Photoserie „ZiTy – Stadt der Zeichen“ und stellen eine künstlerische Interpretation, der im Text beschriebenen Phänomene dar. Es sind Modelle von Stadtszenerien, bestehend aus Schriftelementen.