Liebe Freundinnen und Freunde des Vereins stadtkultur international e. V.,
am 22.04.2022 ist Jochen Noth, Gründungsmitglied des Vereins stadtkultur international e. V., langjähriger Vorsitzender und Freund, verstorben. Er wird uns sehr fehlen. Unser Vereinsmitglied Eduard Kögel hat einen sehr persönlichen Nachruf auf Jochen verfasst, den wir auf diesem Wege teilen möchten.
Zum Tod von Jochen Noth
Das Leben von Jochen Noth passt nicht in einen einzelnen Nachruf, weswegen ich mich hier vor allem auf sein Engagement im Kontext des Vereins stadtkultur international (ski) konzentriere. Zusammen arbeiteten wir fast 15 Jahre in einer Bürogemeinschaft, wo er seinen Projekten nachging und ich den meinen. Gemeinsam waren wir im Vorstand des oben genannten Vereins, wo wir den Kulturaustausch, vor allem zwischen China und Deutschland, im Fokus hatten.
Studiert hatte Jochen Literaturwissenschaft, Romanistik und Politikwissenschaft in Heidelberg und Paris. Als politischer Aktivist war er Ende der Sechzigerjahre Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und gründete zusammen mit Anderen Anfang der Siebzigerjahre den Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW). Dadurch wurde eine akademische Karriere unmöglich und ab 1979 lebte er für fast zehn Jahre als Journalist und Dozent im Pekinger Exil. Als Herausgeber brachte er bereits damals chinesische Kurzgeschichten in den deutschen Sprachraum und später vermittelte er als Co-Autor für ein bilinguales „Deutsches idiomatisches Wörterbuch“ sprachliches Knowhow. Als das Rimini Protokoll 2006 das überaus erfolgreiche Stück „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“ auf die Theaterbühne brachte, spielte Jochen sich selbst und reflektierte über die Gespenster des Kommunismus in seinem Leben.
Mit der Ausstellung „China Avantgarde“ im Haus der Kulturen der Welt in Berlin eröffnete Jochen zusammen mit Andreas Schmid und Hans van Dijk als Kuratoren 1993 eine komplett neue Perspektive auf die zeitgenössische Kunstproduktion in der Volksrepublik. Er hatte nach 1979 selbst das Erwachen der Kunst- und Kulturszene mit der ökonomischen Liberalisierung erlebt, nahm aber auch die radikale Veränderung der Stadtlandschaft wahr. Das Verwinden der alten Hofhausanlagen und die neue Stadtentwicklung mit megalomanen Strukturen sensibilisierten ihn für urbane Fragen. Als wacher Geist und kritischer Bürger suchte er nach Plattformen des Dialogs, mit denen sowohl für die lokal Verantwortlichen als auch für ausländische Beobachter ein Mehrwert entstanden ist.
Durch den immensen Erfolg der genannten Kunstausstellung beflügelt, initiierte Jochen Ende 1996 zusammen mit anderen die Gründung des Vereins stadtkultur international, dessen Zweck es ist, „den Kulturaustausch zwischen Berlin und anderen großen Städten der Welt, insbesondere im Rahmen und im Zusammenhang mit der Städtepartnerschaft Berlin–Peking zu fördern und zu unterstützen.“ Konkreter Grund für die Vereinsgründung war die Konzeption der Ausstellung „Peking – Hauptstadt des 21. Jahrhunderts (?)“, die jedoch nicht realisiert werden konnte. In Vorbereitung der Ausstellung organisierte der Verein Ende 1997 unter dem Vorsitz von Jochen im Rahmen der Asien-Pazifik-Wochen eine Tagung, zu der unterschiedliche Experten aus China und Deutschland zusammenkamen und zum ersten Mal in Berlin über die Herausforderung der chinesischen Hauptstadt sprachen. Im Rahmen dieser Veranstaltung lernte ich Jochen kennen und fand mich schon bald mit ihm zusammen im Vorstand des Vereins wieder.
Im zeitigen Frühjahr 1999 konnte dann im Deutschen Architekturzentrum in Berlin mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung ein zweitägiges Symposium veranstaltet werden, zu dem die Architectural Society of China (ASC) Architekten und Stadtplaner entsandte, die ihre Perspektiven vortrugen. Zu diesem Zeitpunkt gab es in der Bauindustrie noch sehr wenig Kooperation und der chinesische Markt öffnete sich erst in den folgenden Jahren für deutsche Ingenieursdienstleistungen. Zur Vertiefung der Fragestellungen konnten in den Jahren bis 2005 insgesamt neun Symposien in Deutschland und China durchgeführt werden – meist war Jochen als Delegationsleiter mit von der Partie.
Speziell das Symposium in Tangshan geriet dabei zu einem interessanten Zusammentreffen, bei dem unterschiedliche Erwartungshaltungen und kulturelle Missverständnisse aufeinandertrafen. Hier war Jochens geschicktes Vermitteln gefragt, um zu einem akzeptablen Ergebnis zu kommen. Die lokale Politik und Planungsbehörde erwartete von der deutschen Delegation einen gemeinsamen Entwurf für ein neues Stadtviertel und ein fertiges Stadtmodel. Das lokale TV-Team war bestellt, um den nicht vorhandenen großen Wurf aus Deutschland zu dokumentieren. Die Enttäuschung ob des fehlenden Projektes war also groß. Um einen kompletten Eklat zu verhindern, war Jochens Diplomatie gefragt, die er sich in vielen Jahren des Austauschs erarbeitet hatte. Ein Gesicht wahrender Kompromiss lief darauf hinaus, dass eine zweite Delegation noch einmal nach Tangshan fuhr, um mit den lokalen Kollegen eine gemeinsame Lösung zu finden. In dem von dieser Erfahrung editierten Buch geht Jochen unter dem Titel „Absurder Dialog“ den Fragen der unterschiedlichen Auffassung zum öffentlichen Raum nach. Denn obwohl dasselbe Vokabular verwendet wurde, führte dies nicht zu einem besseren Verständnis. Es zeigte sich, dass selbst wenn Dinge ähnlich aussehen, es doch auch eine jeweils eigene kulturelle Aneignung gegeben hat, die andere Erwartungen provozierte. Deshalb sind Dialoge und Diskurse ein wesentlicher Beitrag zur Verständigung, an der Jochen unermüdlich gearbeitet hat.
Viele Jahre blieb Jochen der Vorsitzende des Vereins. Mit seiner Neugier und seinem Interesse an allen möglichen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Fragen, war er immer am Puls der Zeit und half Brücken zu bauen für eine diskursive Praxis, die das jeweils Andere ernst nahm, um die interkulturellen Untiefen auszuloten. Für ski war Jochen eine prägende Person, die vor Ideen sprühte und immer wieder neue Ansätze suchte, damit festgefahrene und als gesichert geglaubte „Wahrheiten“ neu in einem anderen Licht erscheinen konnten.
Jochen stieß durch seine Fragen und sein Engagement zum Nachdenken über die zeitgenössische urbane Kultur an und half damit Kompetenzen aufzubauen, die den Dialog immer wieder befeuerten und herausforderten. Darüber hinaus gab er sein Knowhow begeistert an die nächste Generation weiter, als Dozent und als Berater, der sich auch nicht zu fein war, die Verbesserung der sich industrialisierenden Schweinezucht im ländlichen China ins Auge zu fassen und im Dialog nach neuen Bildungs- und Ausbildungsformen zu suchen.
Jochen, deine Beiträge zum Diskurs werden fehlen, aber dein Vermächtnis einer kritischen Praxis, die auch eigene Positionen ständig in Frage stellt, bleiben Vorbild und Leitbild. Dein positives Denken, das auch durch die schwere Krankheit nicht gebrochen wurde, die Suche nach immer neuen Ansatzpunkten für den interkulturellen Austausch werden fortleben, auch wenn du aktiv dazu nicht mehr beitragen kannst.
Eduard Kögel
Der Vorstand und die Mitglieder des Vereins stadtkultur international e. V.
ski – stadtkultur international ev
will den Kulturaustausch zwischen Berlin und anderen großen Städten der Welt fördern. Seine Mitglieder sind Architekten und Stadtplaner, Urbanisten, Berater, Kuratoren, Juristen, Sinologen und Geographen. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt im Bereich Architektur und Städtebau, umfasst aber auch andere Fragen der Kultur und gesellschaftlichen Entwicklung in Städten. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der dynamischen Entwicklung in Asien.
Der Verein verfolgt seine Ziele durch Ausstellungen, Workshops und Symposien, über die dialogische Zusammenarbeit von deutschen und internationalen Partnern in gemeinsamen Projekten und die darauf aufbauenden persönlichen Beziehungen.