Ein junger Journalist aus Tianjin (Jahrgang 1984) beschreibt die Veränderung seiner Stadt
Das Deutsch-Chinesische Kulturnetz hat mich gebeten, etwas über die Architektur und Stadtentwicklung von Tianjin zu schreiben, und ich denke, dass es sich dafür den Richtigen ausgesucht hat. Ich vermute, der Ort, an dem ich lebe, die Tianjin Binhai New Area, ist der Ort auf dieser Erde, der sich am schnellsten verändert. Meiner Meinung nach ist dies ein bedeutsames Phänomen, und zwar nicht nur für deutsche Investoren oder Menschen mit Interesse an Stadtentwicklung in China.
Wahrscheinlich rümpfen jetzt einige die Nase oder bezweifeln diese Behauptung, doch ich denke, dass ihr Eindruck von Tianjin noch aus der Vergangenheit stammt. Das ist nicht verwunderlich, schließlich verläuft die Reform und Öffnung Chinas von Süd nach Nord. In den 80er Jahren wurde Shenzhen zum Star Chinas, in den 90ern stieg Shanghai auf und wurde zum Finanzzentrum. Shenzhen nutzte die Stärke des Nachbarn Hongkong, um ausländische Investitionen anzuziehen und eine arbeitsintensive Industrie aufzubauen. Shanghai hingegen nutzte seine industrielle Basis und die Überlegenheit seiner Arbeitskräfte.
Der Ort, der sich am schnellsten verändert
Tianjin und Shanghai haben manches gemein: Beide waren Orte, die vor hundert Jahren die Ideale der Bewegung zur Verwestlichung sehr stark aufgesogen haben. Doch nach Beginn der Reform- und Öffnungsperiode [1978] hatte Tianjin schwer an den Folgelasten der vorangegangenen Epoche der Planwirtschaft und der einseitigen Förderung der Schwerindustrie zu tragen. Dazu kamen die Auswirkungen des verheerenden Erbebens in Tangshan [1976], so dass Tianjin nicht mit den Reformen Schritt halten konnte. Doch als 2006 die Tianjin Binhai New Area zum nationalen strategischen Projekt aufgewertet wurde, schlug die Stadt wieder den Weg der rapiden Entwicklung ein.
Ich bin 1984 geboren und in Tanggu aufgewachsen, das genau im Kerngebiet der Binhai New Area liegt. Als Kind wohnte ich an einem Ort mit Namen Sihao Matou – Anlegestelle Nr. 4. Dort sah ich jeden Tag unzählige Schiffe ankommen und abfahren und die am Ufer liegenden Boote. Weil ich noch klein war, habe ich nur eine verschwommene Erinnerung daran, dass es in Tanggu einen Ort gab, der als Entwicklungszone bezeichnet wurde. Meine Eltern nahmen mich einmal dorthin mit, wahrscheinlich zu einem Arbeitseinsatz an einem Wochenende. Geblieben ist mir der Eindruck, dass wir in einer riesigen Fabrik gewesen waren.
Reiche Bauern, arme Städter
Ein anderes Mal nahm mich mein Vater mit nach Daqiuzhuang. Das hat der mich sehr beeindruckt. Die Fahrt kam mir ewig vor. Später erfuhr ich, dass Daqiuzhuang ein relativ weit von Tanggu entfernter Tianjiner Vorort ist, der damals eins der reichsten Dörfer in China war. Es war nur ein Dorf, aber es wirkte prächtiger als eine Stadt. Egal ob bei den Bauern zuhause oder draußen auf der Straße, überall sah man Teppiche (Teppiche waren in den 80er Jahren in China der reine Luxus). Jede Familie wohnte in einer Villa. Daqiuzhuang war durch die Entwicklung der ländlichen Unternehmen schnell reich geworden und galt damals als Modell für die Reform und Öffnung Chinas.
Die normalen Bürger Tianjins lebten dagegen noch sehr einfach. Die meisten arbeiteten in den Fabriken der Schwerindustrie. Jeden Morgen bewegten sich große, uniform gekleidete Menschenmassen auf dem Fahrrad durch die Straßen der Stadt. An diesen Straßen standen noch keine Hochhäuser. Die Einkommen waren gering, doch man war relativ glücklich. Das war die Umgebung, in der ich aufwuchs, fröhlich und völlig sorglos. Damals gab es den Begriff “Nach-80er-Generation” noch nicht, damals wurden wir schlicht “Einzelkinder” genannt.
„Shanghai mochte ich.“
Später tauchte eine Stadt namens Shenzhen langsam in meiner Welt auf, vor allem weil meine Mutter einmal als Lehrerin dorthin versetzt wurde. Es hieß, dass das Bildungsniveau dort niedrig sei, dass es aber viel Geld gab. Lehrer, die aus Tianjin dorthin gingen, konnten das drei- bis fünffache verdienen. Meine Mutter brachte mir von dort tolle neue Spielsachen mit, und so hatte ich einen ziemlich guten Eindruck von Shenzhen.
Als ich allmählich erwachsen wurde, dachte ich, dass ich aufbrechen müsste, um etwas von der Welt zu sehen. Shanghai mochte ich. Dort konnte man noch etwas bewirken. Dort gab es Viele, die den Traum vom Reichtum verwirklichten. Meine Kommilitonen begannen ebenfalls, Zukunftspläne zu schmieden, und für viele war ein Auslandsstudium das Ideale. Wir hatten in unserer Welt genug gesehen um zu wissen, dass die Welt woanders anders aussah. Wir wollten hinaus in die Welt und ein besseres Leben suchen.
Doch als ich in der Zeit meines Hochschulabschlusses schon außerhalb von Tianjin unterwegs war, las ich in der Tianjiner Lokalzeitung “Heute Abend” die Nachricht “Tianjin Binhai New Area ist zum nationalen strategischen Projekt aufgewertet worden”. Das änderte meine Pläne, denn nun hatte ich das Gefühl, dass unsere Chance gekommen war!
Ökostadt und Hochhauskomplex
Eigentlich ist Tianjin ziemlich konservativ. Doch jetzt verändert sich die Stadt. Das sehe ich Tag für Tag in meiner Arbeit. Nach meinem Studium hatte ich das Glück, Journalist zu werden. Dadurch kann ich den Wandel noch besser verstehen und spüren, besonders in der Binhai New Area.
Die Dörfer auf diesem großen Stück Land, die man früher keines Blicks würdigte und deren Namen einem nicht einfielen, wurden komplett um- und neugestaltet. Von Anfang an sollte hier ein globales Finanz-, Wirtschafts- und Kongresszentrum und eine Öko-Stadt entstehen.
Öko-Stadt: in China wurde dieser Name hier zum ersten Mal gebraucht. Das ist nicht nur eine Idee, es ist auch ein Modell für eine Stadt der Zukunft, welches China und Singapur ausprobieren. Als ich klein war, kam ich hier oft vorbei. Es sah hier aus wie früher die ehemalige Entwicklungszone: bis zum Horizont salziger, wüster Strand. Damals fragte ich mich, wieviele Häuser man wohl auf diesem öden Land errichten könnte. Nie hätte ich gedacht, dass es man soviel daraus machen kann.
Wie alle Chinesen haben die Tianjiner einen Hochhauskomplex. Dicht stehende Hochhäuser wie in Manhattan gehören in China zur wirtschaftlichen Entwicklung dazu. Shanghai hat viele Hochhäuser, weil aber so früh gebaut wurde, wurde nicht ordentlich geplant. Binhai New Area hat eine solidere Basis, hier kann ohne Probleme ein chinesisches Manhattan entstehen, sogar ein viel moderneres.
Moderne Stadt mit lebendiger Tradition
Aber dies zählt zur Hardware der Stadt und eine solche „harte“ Infrastruktur besitzt Tianjin überall: die schnellste Zugverbindung der Welt, der schnellste Computer der Welt, große Flugzeuge und große Raketen….. In meinen Augen sind jedoch die weichen Faktoren für die Stadt der Zukunft viel wichtiger, denn es sind die Verkehrsprobleme und die Verschmutzung durch Energieverbrauch, die die Menschen unzufrieden machen.
Eine Besonderheit von Tianjin ist seine historische Architektur. Es gibt reich verzierte und elegant schlichte alte Häuser und zahlreiche ungewöhnliche Bauten im westlichen Stil. Man kann Häuser im Stil deutscher Gotik entdecken, die von den Tianjinern “kleine Ausländerhäuser” genannt werden. Die Schönheit der Tianjiner Szenerie zeigt sich auch an den Ufern von Meer und Fluss. Sie wurden in den letzten Jahren aufwändiger als je zuvor gestaltet, und ich bin fest davon überzeugt, dass sie in der Zukunft noch schöner werden.
Bisher ist das Leben in Tianjin recht gemütlich. Die historische Kultur lebt nicht nur in den „kleinen Ausländerhäusern“ fort. Man kann in Tianjin im Teehaus humoristischen Dialogen lauschen und den typischen Tianjiner Witz erleben. Ich sehe das künftige Tianjin als eine moderne Stadt mit lebendiger Tradition. Heute entwickelt sich Tianjin zu einer Stadt der modernen Technologie, der Ökologie und des Umweltschutzes. Das ist auch die Richtung, in die sich China ändert und diese Veränderung wird unsere Zukunft bestimmen.
Text: Chen Xi, Journalist, Tianjin, Übersetzung: Tanja Reith, Dezember 2010